Unser größtes Problem im Leben ist, dass wir uns als getrennt von allem anderen wahrnehmen. Solange wir uns aber als getrennt wahrnehmen, leiden wir. Wir sind ständig damit beschäftigt, unser „Ich“ zu definieren, unsere Grenzen abzustecken und sie zu verteidigen. Dadurch limitieren wir uns selbst und sperren uns in eine Box. Wir kreieren eine Definition von „Ich“ in Abgrenzung zu allem anderen um uns herum.
Auch wenn es in unserer Box eng ist und wir sehr eingeschränkt sind, fühlt es sich sicher an: Wir kennen die Grenzen, wir wissen, wer wir sind. „Ich bin so, ich mag das, ich kann das, das mag ich nicht, das kann ich nicht“ etc.
Es ist sogar so, dass wir nicht nur uns selber in eine Box sperren, sondern auch alle und alles um uns herum. Wir wissen, was das ist, wir wissen, wie der ist, wie er reagieren wird. Alles wird kategorisiert und mit festgelegten Definitionen eingegrenzt.
Die Wahrheit ist, dass wir nicht getrennt sind, es nie waren und es nie sein werden. Wir alle sind Manifestationen einer gemeinsamen Energie, die nicht irgendwo anfängt oder aufhört. Wo ist dieses „Ich“, das wir nähren und pflegen, wo kommt es her und wo geht es hin?
Das kleine Selbst, die Definition von „Ich“, die wir für uns kreieren, ist eine Illusion. Nur durch regelmäßige und ausdauernde Übung (Meditation) beginnen wir das wirklich zu internalisieren. Damit meine ich, es nicht nur rational zu verstehen, sondern es auf einer tieferen Erfahrungsebene zu begreifen und in unser Leben zu transformieren.
Je tiefer man in die Meditation eintaucht, desto mehr löst sich das Gefühl der Trennung auf, und man beginnt, weniger zu kämpfen. Dann können wir das Leben und die Dinge, die passieren, die Menschen, die uns begegnen, annehmen, wie sie sind, anstatt uns zu ärgern, weil sie nicht unseren Erwartungen entsprechen. Wir öffnen sozusagen langsam den Deckel unserer Box und beginnen uns hinauszuwagen. Wir sehen plötzlich, dass es eigentlich keine Grenzen gibt und uns alle Möglichkeiten offenstehen.
Wir leiden, weil wir Dinge anders haben wollen, als sie sind. Wir hadern mit unserer Situation, unserem Job, anderen Menschen, weil sie nicht dem entsprechen, was das „Ich“, das wir in unserer Box festgelegt haben, sich wünscht und sich vorstellt. Alles um uns herum bewegt sich, nur wir versuchen stehenzubleiben und festzuhalten. Das kann nicht gut gehen. Nichts im Leben bleibt gleich, alles befindet sich in permanentem Wandel, und trotzdem versuchen wir, Dinge festzulegen und unseren Wünschen anzupassen, anstatt das was ist anzunehmen und mit dem, was das Leben uns vorsetzt, zu fließen. Wir benehmen uns wie ein Surfer, der sein Brett inmitten der Strömung der Wellen versucht festzuhalten, anstatt aufzuspringen und los zu surfen.
Der Zen Meister Thich Nhat Hanh hat einmal gesagt: „Unsere Verabredung mit dem Leben findet immer im gegenwärtigen Augenblick statt. Und der Treffpunkt unserer Verabredung ist genau da, wo wir uns gerade befinden."
Wir müssen uns fragen: Sind wir da? Leben wir unser Leben wirklich? Oder verbringen wir die meiste Zeit damit, von besseren Zeiten zu träumen oder uns über das zu ärgern, was nicht so ist, wie wir es uns wünschen?
Wir haben nur eine sehr begrenzte Zeit hier auf der Welt zur Verfügung. Sind wir wirklich hier? Und können wir es schaffen, mit dem zu verschmelzen, was ist, anstatt nach dem zu jagen, was unserer Meinung nach sein sollte?
Es ist faszinierend, wie abhängig wir von unserem persönlichen Drama sind:
Egal wie wohlhabend, gesund und erfolgreich, der Mensch hat immer die Tendenz zur Unzufriedenheit. Es ist ein lange bekanntes Phänomen, dass Menschen sich ständig von neuem Situationen erschaffen, in denen sie bekannte Leidensmuster immer wieder durchleben. Es ist die permanente Bestätigung unserer Definition von „Ich“ durch wiederkehrende Muster – egal ob diese „gut“ oder „schlecht“ für uns sind.
Wir definieren uns so sehr über unser Drama, dass wir es immer weiter nähren, einfach weil wir uns so daran gewöhnt haben und wir nicht wissen, wer wir ohne dieses Drama sind. Wir schaffen uns immer wieder Situationen, die unser Drama bestätigen.
Es ist das Drama, das die Wände unserer Box verstärkt, und es ist das Drama, das uns unsere vermeintlichen Grenzen vorgaukelt, in deren Rahmen wir uns sicher fühlen. Darum kreieren wir es immer wieder neu.
Durch regelmäßiges Meditieren können wir lernen, diesen Mechanismus wahrzunehmen und langsam aufzulösen, indem wir die Grenzenlosigkeit des Ichs erkennen.
Anstatt als Opfer von den Umständen in unserem Leben kontrolliert zu werden, können wir langsam mehr und mehr lernen, die Umstände anzunehmen und die Wellen des Lebens zu surfen wie sie kommen. Plötzlich merken wir, dass es so viel angenehmer ist, sich einfach mit zu bewegen.
Natürlich passieren Dinge, die nicht angenehm sind, wir begegnen Menschen, die uns verletzen. Unser Job oder die Kollegen stressen uns oder es läuft in der Partnerschaft nicht so, wie wir uns das vorstellen. Leben ist nie einfach, nie unkompliziert und nur angenehm. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?
Solange wir in unserer Box sitzen und alles um uns herum als außerhalb von uns selbst wahrnehmen, sind wir gefangen in den Grenzen unseres kleinen Selbst. ICH fühle mich verletzt, ICH möchte das nicht, ICH kann das nicht. Wir sind so ichbezogen, dass wir uns vollkommen abhängig machen von dem, was wir und andere über uns denken. Wir sind gefangen in einem Konzept von uns selbst, das nur aus Gedanken besteht und keinerlei festen Grund und Boden hat.
So berauben wir uns der Freiheit, in jedem neuen Moment neu zu sein, weil wir glauben, wir wissen, wer wir sind und wer oder was alles um uns herum ist, weil wir mit der Illusion eines definierten Ichs leben. Wir sind die, die immer scheitert oder der, der immer schnell ungeduldig wird. Wir kennen uns und unsere Probleme. Aber stimmt das? Wissen wir das wirklich?
Wenn man das Ganze einmal auf zellulärer Ebene betrachtet, stellt man fest, dass natürlich auch wir nie gleich bleiben: Kein Mensch ist heute der gleiche wie gestern. Zellen haben sich erneuert, andere sind abgestorben, die Haare und Fingernägel sind ein kleines Stück gewachsen – wir sind ein wenig älter geworden. Nichts bleibt unverändert. Und wo in all dieser Veränderung soll dieses „Ich“ sein, an dem wir so krampfhaft festhalten, das uns so wichtig ist und das wir so liebevoll pflegen? Wo ist dieser „Kern“, der immer gleich bleibt und sich nicht verändert?
Alles verändert sich permanent, also auch wir selber. Wenn wir es schaffen, unsere Angst vor dem Unbekannten zu überwinden, den Deckel unserer Box zu lüften und hinauszuklettern, sehen wir das plötzlich. Wir erkennen die Freiheit, die wir eigentlich haben. Jeder Moment, jede Situation, ist neu. Es gibt immer wieder von neuem eine Entscheidung zu treffen, in welche Richtung wir uns bewegen, wie wir reagieren. Wenn wir es schaffen, uns selbst und alles um uns herum als grenzenlos wahrzunehmen, dann können wir frei mit dem Leben fließen und jede Situation neu und ohne belastenden Ballast aus der Vergangenheit oder Sorgen um die Zukunft angehen. Wenn wir uns erlauben, einfach zu SEIN, anstatt ein Konzept von uns und allem um uns herum zu haben und zu erfüllen, dann können wir unser Leben wirklich leben, jeden Moment neu. Wenn wir aufhören zu hadern mit dem was ist, mit dem, was oder wer wir glauben zu sein, werden wir frei und können in jedem Moment genau das geben und genau so reagieren, wie es die jeweilige Situation erfordert. Wir können unser Leben Moment für Moment wirklich leben.
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